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WUNDERLAND.

Es war einmal... ein Land, welches nur so vor Kraft und Schönheit strotzte. Zumindest dachte man das. Es gab keine offensichtlichen Sorgen, die Wirtschaft florierte, denn immerhin beruhte die wirtschaftliche Stärke des Wunderlandes neben dem Mittelstand entscheidend auf der Leistungskraft seiner Industrie und ihrer Innovationsfähigkeit für Forschung und Entwicklung. Allen ging es gut, so richtig gut. Sorgenfreie Menschen machten sich keine Platte über irgendwas, lebten ihr Leben, trafen ihre Vorsorge oder auch nicht, bauten oder kauften ihr Eigenheim, sogar manchmal mit den letzten Kröten, freuten sich auf die nächste Beförderung oder waren bescheiden und zufrieden mit dem was sie hatten, planten regelmäßig Urlaube, sparten, um shoppen oder ins Restaurant zu gehen und tanzten am Wochenende auf Partys, um sich obendrein zu dem ganzen Glück noch voll dröhnen zu lassen. Voller Glückseligkeit im Wunderland, wie es im Buche steht.

 

Bis zu dem Tag, an dem eine dunkle Wolke "der Angst" über das Land zog. Diese Wolke war nicht auf dem Radar zu erkennen, auch angekündigt wurde sie nicht. Von einer Sekunde auf die andere verdeckte diese Wolke die innewohnende Sonne der menschlichen Geister und sorgte für einen Stillstand sondergleichen. Geschäfte, Restaurants, ganze Wirtschaftszweige kamen zum erliegen, waren von heute auf morgen geschlossen und brachten sogar die größten Zahnräder ins Stocken. Stimmen, die aus der Wolke flüsterten, schürten die aufkommende Angst, in dem sie eine Bedrohung vorhersagten und gaben bittersüße Ratschläge sich davor zu schützen. So zogen sich die Menschen zurück, nahmen Abstand voneinander, vermieden Berührungen, wie Umarmungen und sogar die frische Luft der Natur. Die Ängste und Sorgen der Menschen wurden in kürzester Zeit so groß, dass sie sich sogar in sich selbst einschlossen und ihre Gesichter versteckten. Sämtlicher Konsum und Spaß wurde eingestellt. Gleichzeitig kam großes Misstrauen untereinander auf. Verschiedene Meinungen waren tabu, nur was die Wolke flüsterte, hatte Gewicht. Und so erzählten sich die Menschen die urkomischsten Geschichten, meistens darüber, dass bald alles wieder so ist, wie es früher einmal war und warteten auf das Allheilmittel.

 

Endlich war es soweit. Institutionen und Einrichtungen wurden eröffnet, um das Heilmittel zu verteilen. Während sich Ärzte und Freiwillige meldeten und diesen Auftrag annahmen, verdienten sie ganze Säcke von Habseligkeiten dazu. Die Menschen sahen gut bürgerlich zu der Wolke hinauf und dankten ihr demütig für diese Rettung. Das gefiel natürlich der Wolke, denn solange man ihr dankte, durfte sie bleiben. So entschied sie sich die Geschäfte und Restaurants wieder zu eröffnen, aber nur unter der Bedingung das Heilmittel anerkannt und entgegen genommen zu haben. Ein Branding bestätigte dies. Damit war das normale Leben wieder möglich, auch um wieder einzelne Spaßeinrichtungen, wie Reisebüros, Flughäfen oder Tanzlokale aufsuchen zu können. Wichtig und Voraussetzung dafür aber war sich mit dem Branding von der noch weiter bestehenden Bedrohung zu unterscheiden.

 

So hörte man nach einiger Zeit wieder das langsame Aufleben und Knarren der Zahnräder der Wirtschaft und das Leben draußen in der Stadt oder anderswo zeigte sich in diesem Land zurück. Menschen gingen wieder zur Arbeit, Kinder in die Schule, Autos auf die Straßen, Flugzeuge in die Luft und Alte durften in ihren kleinen Zimmern wieder besucht werden.

 

Dieses Flüstern der gegenwärtigen Bedrohung folgte in Abständen dreimal hintereinander. Immer wieder mit gleicher Prozedur und dem Ergebnis, dass die Wolke stets ihren Dank erntete. Mit jedem Dank eines Einzelnen, den sie erhielt, wurde sie größer und größer. Sie breitete sich aus über Grenzen, Länder, sogar über Ozeane, bis sie über alle Menschen in der Welt so viel Macht erlangte, dass sie die Bedrohung und auch die Notwendigkeit des Heilmittels gar nicht mehr zu flüstern brauchte. 

 

Stattdessen überlegte sie sich, wie sie es wohl hinbekäme, sich zu verziehen, dennoch weiterhin da zu sein. Die Menschen suchen und brauchen die Sonne, den klaren Blick hinauf und wollen Licht. Auf Dauer würde sie Unbehagen auslösen, die Menschen ihr gegenüber skeptisch werden und aufhören ihr zu danken. Es verging nicht viel Zeit und sie hatte die Idee. Sie flüsterte weiter, jedoch nicht mehr in die Geister aller Menschen, sondern nur in vereinzelte Köpfe, die ausreichend Potenzial und Möglichkeiten hatten, um einzelne Länder gegeneinander aufzuhetzen. Die Angst muss bestehen bleiben, denn nur so würde ihr weiter zugehört und Folge geleistet werden.

 

So kam es dann, dass sich einzelne Länder begannen gegenseitig zu bekriegen. Es waren jedoch nicht nur irgendwelche Länder, sondern Länder, die eine große weltwirtschaftliche, aber auch geldpolitische Rolle spielten und dadurch auch auf sämtliche weitere Länder und deren Märkte Einfluss nahmen. Grob gesagt waren es immer zwei Seiten, die gegeneinander kämpften - die östliche gegen die westliche Seite. Die Märkte drehten daraufhin völlig am Rad. Große Zahnräder liefen in einer Geschwindigkeit hoch, dass es kurz vor dem Zerbersten nur noch so dampfte und quietschte, während kleine Zahnräder nicht mehr hinterher kamen und im Rad des Irrsinns im hohen Bogen aus dem Maschinenraum flogen und zerschellten. Die Menschen beklatschten dies und brachten all ihren Verdienst und ihre Habseligkeiten ohne zu zögern in die Märkte, die nur so vor Größe, Sicherheit und Kraft strahlten. Endlich war die alte Welt zurück. Die Sonne war wieder da. Endlich wieder Normalität.

 

So verstrich die Zeit. Es entstanden Unruhen, Dekadenz, Pleiten, Armut und Elend rund um den Globus. Das gefiel der Wolke. Sie musste nichts mehr tun, verzog sich in Größe eines Regentropfens auf die höchste Spitze eines Berges, wurde zu Eis, um sich zu schonen und um einfach weiter abzuwarten, wie sich das Ganze wohl entwickeln würde. Die Angst blieb, aber nur noch versteckt in den Köpfen der Menschen. Das neue Weltwunder "Elektrizität", namens "KI-ara" zeigte sich und übernahm die Rolle der Wolke. 

 

"Wenn die Realität zu Fehlentscheidungen führt, helfen Märchen, um sie zu umgehen."

 

Daniela Sommerhoff

 

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